Lagerrisiko und Materialwirtschaft
Besonders hohe bilanzpolitische Bewertungsspielräume bestehen im Warenlager, so dass dem Lagerrisiko erhöhte Aufmerksamkeit auch im Rahmen der Gesamtbeurteilung eines Unternehmens gewidmet werden muss.
Hierbei geht es um die Frage, ob die kurzfristige Absetzbarkeit der Warenbestände unterstellt werden kann. Erste Hinweise auf eventuelle Lagerrisiken liefert die Kennziffer "Lagerumschlag" im Rahmen der Bilanzanalyse. Diese Kennziffer allein ist jedoch im Hinblick auf die großen Bewertungsspielräume und vor allem im Rahmen einer zukunftsbezogenen Betrachtung nicht ausreichend. Ein wesentlicher Faktor für die Beurteilung des Lagerrisikos ist die Frage, ob ein Unternehmen zumindest im wesentlichen auftragsbezogen produziert. Ist dies der Fall, reduziert sich das Lagerrisiko auf die Qualität der erzeugten Produkte und die Bonität der Abnehmer. Aufträge sind nur dann als Absicherung des Lagerrisikos anzusehen, wenn man davon ausgehen kann, dass der Besteller die georderte Ware abnehmen wird und im Rahmen des vereinbarten Zahlungszieles auch bezahlen kann. Infolgedessen muss parallel das beim Verkauf der Waren entstehende Debitorenrisiko beachtet werden.
Eine ausschließlich auftragsbezogene Produktion ist jedoch in vielen Branchen nicht möglich. Hinzu kommt, dass die Abnehmer dazu tendieren, das Lagerrisiko - soweit möglich - auf den Lieferanten (also den Produzenten) zu verlagern.
Sofern auf Lager produziert wird, muss differenziert werden, ob es sich um Standardware handelt, für die im Normfall eine permanente Nachfrage besteht, so dass mit einem angemessenen Lagerabfluss gerechnet werden kann, oder ob zum Beispiel die Ware starken modischen Einflüssen unterliegt. Ein Beispiel hierfür ist die Bekleidungsindustrie. Da die Modetrends von Saison zu Saison wechseln, muss ein Textilunternehmen in der Regel die gesamte Produktion (zum Beispiel die Sommerkollektion) im gleichen Jahr absetzen, da davon auszugehen ist, dass aufgrund des Wechsels des Modetrends im Folgejahr erhebliche Preisabschläge hingenommen werden müssen oder ein Absatz auf den angestammten Märkten überhaupt nicht möglich ist.
Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass bei auftragsbezogener Produktion das Lagerrisiko deutlich niedriger liegt als bei einer "Produktion auf Lager". Andererseits erfordern es Branchengepflogenheiten, dass - wie bereits dargestellt - das Lagerrisiko vom Lieferanten getragen wird. Insofern kann auch bei einer "Produktion auf Lager" trotz des erhöhten Risikos nicht von vornherein die Kreditwürdigkeit verneint werden. Hier ist im Einzelfall zu untersuchen,
- inwieweit die Absatzaussichten der Fertigwarenbestände durch kurzfristige Änderung des Abnehmer- bzw. Konsumentenverhaltens beeinträchtigt werden kann und
- wie flexibel ein Unternehmen auf eine kurzfristig veränderte Nachfragesituation reagieren kann.
Bei Unternehmen, die um eine Lagerhaltung nicht umhinkommen, ist die Logistik der Materialwirtschaft zu untersuchen. Hohe Warenbestände bedeuten nicht nur ein entsprechendes Absatzrisiko, sondern verursachen zusätzlich entsprechende Kapitalbindung und damit Zinskosten.
Es muss daher geprüft werden, welche organisatorischen Vorkehrungen getroffen worden sind, um eine möglichst niedrige Lagerhaltung zu ermöglichen. Bei größeren Unternehmen sollte man heute voraussetzen, dass die Materialwirtschaft EDV-Gestützte organisiert ist. Ein Beispiel für eine EDV-Gestützte Lagerdisposition stellt die Scanner-Technik im Einzelhandel dar.